VIDEO: Unser zerstörerischer Bildungsbegriff



Der Dämon im Schulsystem

Unser Bildungssystem ist permanent Gegenstand politischer und privater Diskussionen. Im politischen Kontext geht es dabei um mehr Geld für die materielle und personelle Ausstattung unserer Schulen, um mehr individuelle Förderung, um den Ausgleich sozialer Unterschiede etc. Private Diskussionen kreisen eher um Inhalte. Man fordert mehr Medienbildung, mehr Ernährungsbildung, manche Abiturientinnen beklagen sich auch darüber, zu wenig fürs Leben Nützliches gelernt zu haben, z. B. wie das mit der Steuererklärung funktioniert oder wie man am schnellsten an der Börse reich wird.

Besonders der letzte Punkt zeigt, wie unzureichend die durch unser Bildungssystem vermittelte Auffassung von Bildung ist. Denn an der Börse reich zu werden, funktioniert nur unter der Voraussetzung eines eklatanten globalen Ungleichgewichts, und das wiederum widerspricht dem Begriff der Gerechtigkeit, jedenfalls insofern wir ihn auf unseren eigenen Nahbereich verstanden wissen wollen. Dafür scheint jedoch in der Schule kaum ein Bewusstsein geweckt werden. Stattdessen herrschen die Prinzipien eines wettbewerbsorientierten und weitestgehend marktradikalen Kapitalismus. Unterm Strich geht es um Bewertung, Konkurrenz, Selektion – letztlich um Wachstum. Nach neun bis 13 Jahren spucken die Schulen dann entsprechende Charaktere aus, die mehr oder weniger darauf vorbereitet sind, ihren Platz in der Arbeitswelt einzunehmen und somit den Wahnsinn von Wachstum, Zerstörung und Ungleichheit weiter voranzutreiben.

Diese Prägung auf Konkurrenz beginnt spätestens in der Grundschule in Form von Lese-, Schreib- und Rechenwettbewerben. In der Sekundarstufe rückt dann die Arithmetik des Notensystems in den Fokus, gleichzeitig wird die Wettbewerbsstruktur geschärft. Als Lohn winkt der Traum von einem guten Platz in einem „Deutschland, in dem wir gerne leben.“ Dass dabei die Verlierer aus dem Blick geraten, erregt kaum Aufsehen. Und wenn doch, so scheint es einfach unvermeidlich, denn für alternative Konzepte fehlt in der Regel das Hintergrundwissen oder die Vorstellungskraft – oder der dafür notwendige Altruismus. Wenn am Ende jeder und jede davon überzeugt ist, dass die eigene wirtschaftliche Situation den je eigenen Fähigkeiten entspricht, hat der Marktliberalismus sein Ziel erreicht. Wer ganz unten landet, war eben einfach zu faul oder zu wenig intelligent, die Eliten hingegen gelten als Leistungsträger; schließlich tragen sie die ganze Verantwortung. Genau dies kritisch zu reflektieren, wäre eigentlich Teil eines aufgeklärten Bildungsbegriffs.

Der Begriff „Aufklärung“ ist uns allen geläufig, die meisten von uns nehmen sich als Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft wahr. Wir sprechen von der aufgeklärten westlichen Welt und vom mündigen Bürger. Aber wie können wir uns sicher sein, dass wir tatsächlich aufgeklärt sind oder uns doch zumindest in einem Prozess der Aufklärung befinden, wie Kant es noch für seine Zeit beansprucht hat? Oder leben wir eher in einer Blase der „Tiefenindoktrination“? Diesen Begriff verwendet der Kieler Psychologieprofessor Rainer Mausfeld für seine These, dass in unserer Gesellschaft ein Set an problematischen Grundwerten unreflektiert für gut befunden und über verschiedene Kanäle vermittelt wird, unter anderem auch als Bildungsziele über die Schulen. (1) Ich nenne nur beispielhaft einige wenige Begriffe wie „Wachstum“, „Wettbewerb“, „Leistung“ und „Wohlstand für alle“. Diese Begriffe bilden unter anderem gewissermaßen die Grundlage eines wichtigen Teils unserer Gesellschaft. Andere Werte sind an sich weniger problematisch, sofern sie kritischer reflektiert würden. Doch Begriffe wie etwa „Glück“, „Fortschritt“, „Gerechtigkeit“ sind bereits im Sinne von Wirtschaftsinteressen vorgeprägt. Sobald wir sie in Frage stellen, droht einerseits ein Kollaps bestehender Strukturen, andererseits steckt genau darin die Chance auf mehr Fairness und Frieden in der Welt.

Bei näherem Hinsehen erweist sich das verbreitete Verständnis von Aufklärung und Bildung als höchst einseitig und in der Konsequenz zerstörerisch. Und unser Schulsystem spielt eine wesentliche Rolle dabei, dass es so bleibt, wie ich am Beispiel Hessens aufzeigen werde.

Was verstehen wir also unter Aufklärung? Die meisten dürften schon einmal Kants Formel vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit gehört haben. Damit einher geht der weit verbreitete und häufig viel zu plump interpretierte Imperativ „Sapere aude!“, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Das alles sagt noch wenig aus, wir müssen es etwas aufschlüsseln. Dazu will ich zwei weitere Denker bemühen, die eine zentrale Rolle in der europäischen Aufklärung spielen. René Descartes und Platon. Descartes lebte von 1596 bis 1650.

In seinem 1637 anonym veröffentlichten „Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen“ berichtet Descartes über seine Erfahrung mit dem Bildungssystem seiner Zeit. Obwohl er „eine der berühmtesten Schulen Europas“ (2)besucht hat, fand er sich doch nur in „Zweifel und Irrtümer“ (3) verstrickt. Er machte die Erfahrung, dass die Gelehrten sich gegenseitig widersprachen und dass so manchen Auffassungen nachvollziehbare Begründungen fehlten. Aus dieser Erfahrung leitete er die so genannte erste Vorschrift für sichere Wissensaneignung ab:

„[…] niemals irgendeine Sache als wahr zu akzeptieren, die ich nicht evidentermaßen als solche erkenne; dies bedeutet, sorgfältig Voreingenommenheit zu vermeiden und in meinen Urteilen nicht mehr zu umfassen als das, was sich so klar und so deutlich meinem Geist vorstellt, dass ich keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln“ (4) „Evident ist etwas, wenn keine weitere gedankliche Leistung mehr vonnöten ist, um es zu legitimieren.“ [Anmerkung des Herausgebers]. (5)

Diese erste Vorschrift zur Wissensaneignung hat Descartes in seinen 1641 erschienen „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ noch etwas radikaler ausgeführt. Ausgehend von der Erfahrung, dass auch unsere Sinne uns täuschen können, stellte Descartes sich in der ersten Meditation die Frage, wie wir uns überhaupt sicher sein können, dass die Außenwelt existiert. Womöglich bilden wir uns das alles nur ein wie in einem Traum! Schließlich wissen wir aus Erfahrung, dass wir das in unseren Träumen Erlebte als durchaus wirklich wahrnehmen und uns keineswegs bewusst sind, dass wir gerade träumen. Dementsprechend könnte unser Wachzustand ein Traum höherer Ordnung sein, aus dem wir irgendwann einmal aufwachen.

Und noch weiter: Wie kann ich sicher sein, dass ich selbst existiere? Möglicherweise gibt es „überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort“ (6).

Möglicherweise scheint dies alles nur zu existieren! Kurz: Es ging Descartes um die grundsätzliche Frage, wie gesicherte Erkenntnis überhaupt möglich ist, wo wir doch gleichzeitig ständig die Erfahrung der Täuschung machen. Die philosophische Disziplin, die sich noch heute mit dieser Frage der sicheren Wissensaneignung beschäftigt, nennen wir Erkenntnistheorie oder als Fachbegriff Epistemologie. Epistemé ist das griechische Wort für Wissen im eigentlichen Sinn, frei von persönlichen Interessen.

In einem Gedankenexperiment beschließt Descartes alles von sich „fernzuhalten, was auch nur den geringsten Zweifel zulässt“. (7)

Anders gewendet: Gibt es eine gesicherte Wissensgrundlage, die unmöglich angezweifelt werden kann?

Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.“ (8)

Wir nennen dieses Vorgehen den radikalen Zweifel, angemessener sprechen wir heute vom methodischen Zweifel. Descartes geht vom Schlimmsten aus: Er nimmt an, es gebe einen bösen Geist, einen genius malignusoder bösen Dämon, der uns alles nur vorgaukle, sogar unsere eigene Existenz. Lässt sich diese Annahme widerspruchsfrei aufrechterhalten? Descartes behauptet: Nein, nicht vollständig. Es sei zwar denkbar, dass ein böser Dämon mir eine in Wirklichkeit nicht existierende Außenwelt vortäusche, aber nicht die Tatsache, dass ICH gerade einen Bewusstseinsinhalt einer Außenwelt habe. Auch wenn dieser Bewusstseinsinhalt falsch ist, so ist er doch vorhanden; vielleicht als falscher Bewusstseinsinhalt, aber eben doch als Bewusstseinsinhalt. Und da dieser Bewusstseinsinhalt jemandem mit Bewusstsein gehören muss, muss ICH existieren. Selbst wenn also ein Dämon mich täuscht, so muss er doch MICH täuschen! Descartes kommt somit zu dem Schluss, dass er seine eigene Existenz klar und deutlich und ohne die Möglichkeit weiteren Zweifelns bewiesen habe: „Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, dass ich bin.“ (9)

Zweifeln ist ein Denkprozess, somit kommt Descartes zu der unwiderruflichen Einsicht: Ich denke, also existiere bzw. bin ich! Oder: Cogito, ergo sum! Wir nennen dies ein sich selbst bewahrheitendes Argument. Indem ich es ausspreche, muss es wahr sein.

Die grundsätzliche Fähigkeit zur Erkenntnis, zur Einsicht z. B.: „Daraus, dass ich zweifle, folgt, dass ich bin“ verdanken wir laut Descartes der erhellenden Eigenschaft unseres Verstandes, dem sogenannten lumen naturale (10), dem natürlichen Licht. Wir können es als gesunden, funktionierenden Verstand bezeichnen, als die angeborene Fähigkeit des Geistes, das Sichere und Wahre als das Denknotwendige und Evidente zu erfassen; und eben dies besitzt jeder mental gesunde, erwachsene Mensch.

Ausgehend vom „Cogito“ glaubte Descartes die Existenz der Außenwelt und schließlich die Wissenschaften an sich auf ein neues, erkenntnistheoretisches Fundament stellen zu können, frei von jeglicher Möglichkeit des Zweifels.

Naja, auch die Philosophie hat sich seither weiterentwickelt, heute würden wir Descartes‘ Beweisführung bezüglich der Existenz der Außenwelt nicht mehr akzeptieren, vor allem, weil ihm das nur unter der „Beweisführung“ der Existenz eines guten Gottes gelingt. Einzelheiten würden an dieser Stelle aber zu weit führen. Im strengen Sinne lässt sich noch nicht einmal sagen, was eigentlich das „Ich“ sein soll; noch können wir heute die Existenz der Außenwelt beweisen. Streng genommen kann ich mir also noch nicht mal sicher sein, ob ich tatsächlich gerade ein Video aufnehme :). Unser aller Leben wird aber erheblich einfacher, wenn wir davon ausgehen, dass die Außenwelt, ähnlich, wie wir sie wahrnehmen, unter bestimmten methodischen Voraussetzungen, die unter anderem Descartes erarbeitet hat, existiert. Deswegen können wir das für unsere Bedürfnisse einfach voraussetzen, um vorläufig handlungsfähig zu bleiben.

Auch wenn Descartes keinen endgültigen Beweis für die Existenz der Außenwelt liefern konnte, hat er doch drei ganz wesentliche Aspekte der Aufklärung entwickelt, ohne die keine moderne Wissenschaft denkbar wäre; nämlich den radikalen und methodischen Zweifel gegenüber Behauptungen ohne strenge Beweisführung, die Überzeugung, dass der menschliche Verstand unabhängig von Autoritäten zu objektiver Erkenntnis gelangen kann, und schließlich den Zweifel am eigenen Denken, also das Einräumen der Möglichkeit des Sich-Irrens. Genau, ein aufgeklärter Mensch lässt immer den Gedanken zu, dass er sich im Irrtum befinden könnte und ist offen für bessere Argumente. Und dank des in jedem gesunden, erwachsenen Menschen vorhandenen natürlichen Lichts der Erkenntnisfähigkeit muss und darf der aufgeklärte Mensch nichts ungeprüft übernehmen. Dies bedeutet auch den Fall der Autoritäten, die wir nicht mehr einfach so unkritisch und ungeprüft anerkennen dürfen.

Durch seine Methode des Zweifelns sind Descartes große Durchbrüche in der Mathematik und in den Naturwissenschaften, vor allem in der Medizin, gelungen.

Einen ganz anderen Bereich möchte ich mit dem Bezug auf Platon ansprechen. Er lebte ungefähr von 427 – 347 v. Christus und gilt als der berühmteste Schüler des Sokrates, der 399 v. Christus den Giftbecher trinken musste. Ihm wurde vorgeworfen, mit seinem ewigen kritischen Fragen die Jugend zu verderben. Er galt als Aufwiegler und Gefahr für die bestehende Ordnung. Platon lässt ihn sagen:

[…] ich aber befürchte, dass ich bei ihnen in dem Ruf stehe, meiner Menschenliebe wegen, was ich nur weiß, verschwenderisch jedermann zu sagen nicht nur unentgeltlich, sondern auch noch gern etwas dazugebend, wen mich nur jemand hören will.“ (11)

Von Sokrates sind keinerlei Schriften überliefert, von Platon hingegen schon. Die allermeisten hat er in Dialogform verfasst, also ähnlich wie Theaterstücke. Und in fast allen Dialogen kommt eine Figur namens Sokrates vor, womit zumindest in den frühen Dialogen nach etablierter Lehrmeinung auch tatsächlich der historische Sokrates gemeint ist.

Platon hat uns wie kein anderer gelehrt, kritisch über unsere sprachlichen Begriffe und geistigen Konstrukte nachzudenken.

Unser ganzes Leben vollzieht sich quasi genuin in solchen Konstrukten, sie sind uns so selbstverständlich, dass wir uns ihrer in der Regel nicht einmal bewusst sind. Unsere Gesellschaftsform, unsere Wirtschaftsform, unser Verkehrssystem, unser Rechtssystem, unsere vorherrschende Moral, einfach alles folgt Konstrukten unserer geistigen Schaffenskraft. Auch unsere Alltagssprache ist ein Phänomen des Geistes. Unser Geist ist geprägt von Ideen, Konzepten, von Gedankenkonstrukten, die unserem Leben eine Struktur geben, die uns aber auch antreiben, von denen wir durchdrungen sind, an denen wir uns orientieren.

All diese Strukturen wirken letztlich auch wieder zurück auf diejenigen, die sie geschaffen haben, oder eben auf andere. Insofern sollten wir wir ein elementares Interesse daran haben, diese Konstrukte kritisch auf ihre Begründung und Legitimation hin zu prüfen.

Während dieser kritischen Prüfung verwenden wir wiederum begriffliche Konzepte, ohne die sich unser Leben nicht denken lässt, wie etwa Wahrheit, Wissen, Gesellschaft, Freiheit, das Gute, Bewusstsein, Leiden, Verdienst, Gerechtigkeit, Jenseits, Tod, Fairness, Strafe und dergleichen noch fast unendlich viele mehr.

Wir verwenden diese Begriffe ganz selbstverständlich, doch können die wenigsten von uns spontan klären, in welcher Bedeutung wir sie verwenden. Dabei kann es sein, dass unser Verständnis dieser Begriffe höchst fatale Auswirkungen hat.

Genau das lernen wir beispielhaft an Platons Dialog „Eutyphron“. Dieser Eutyphron, einer, der sich auf das Göttliche und das Fromme versteht (4 e – 5 a), möchte seinen eigenen Vater wegen Totschlags vor Gericht stellen. (4a) Er ist sich sicher, dabei gemäß des Göttlichen und somit der Gerechtigkeit zu handeln. Sokrates zeigt sich darüber verwundert:

Du aber, um des Zeus willen, o Eutyphron, glaubst so genau dich auf die göttlichen Dinge zu verstehen, wie es sich damit verhält, und auf das Fromme und Ruchlose, dass du bei diesem Hergang der Sache […] gar nicht besorgst, ob du nicht etwa selbst wiederum, indem du den Vater vor Gericht belangst, etwas Ruchloses begehst?“ (12)

Eutyphron gibt vor, sich absolut sicher zu sein, worauf Sokrates wiederum mit der ihm typischen Ironie entgegnet:

So wird es demnach für mich, du bewunderungswürdiger Euthyphron, wohl das Beste sein, dass ich dein Schüler werde“.(13)

Ich kann nur sehr empfehlen, diesen kurzen Dialog von Platon einmal selbst zu lesen, er ist sehr kurzweilig und lehrreich. Darum verrate ich hier nicht zu viel. Klar ist aber, dass Eutyphrons Vorstellung von Gerechtigkeit sehr schnell brüchig wird und sich nicht mehr aufrecht erhalten lässt.

Eben dieser uralte Begriff der Gerechtigkeit und die Frage, was eine gute Handlung von einer bösen oder schlechten unterscheidet, betrifft noch heute jeden von uns. Wir alle erheben Anspruch darauf, dass uns Gerechtigkeit widerfahre und ebenso würden die meisten von sich behaupten, dass sie zumindest bestrebt sind, andere gerecht und gut zu behandeln.

Aus diesem Anspruch ergeben sich eine Reihe weiterer Fragen: Was ist eigentlich Gerechtigkeit? Wie muss eine gerechte Gesellschaft organisiert sein? Was verstehen wir überhaupt unter den Begriffen „gut“ und „böse“? Wie können wir überhaupt sicheres Wissen darüber erlangen, was wir als gut und „böse“ empfinden? Etc.

In diesem begrifflichen Reflektieren, diesem kritischen Überprüfen unserer geistigen Konstrukte sehe ich den vierten wichtigen Aspekt der Aufklärung.

Dieses kritische Prüfen auf seinen Wahrheitsgehalt hin ist genau das Gegenteil eines Wahrheitsrelativismus, wie er heute geradezu zum guten Ton gehört. Zumindest lassen sich dadurch leicht Konflikte vermeiden.

Weit verbreitete Alltagsurteile der Art „Das muss jeder für sich entscheiden“ kommen so positiv liberal daher und scheinen dem Wert der Toleranz zu entspringen. In Wirklichkeit sind sie jedoch hoch gefährlich. Im Grunde will man mit einem solchen Satz ja sagen, dass sich ein tieferes Nachdenken über derartige Begriffe wie „Gerechtigkeit“, „gut“ und „böse“ nicht weiter lohnt. Tatsächlich spielen sie aber eine zentrale Rolle in unserem Leben. Ohne diese Begriffe fehlt uns eine wichtige Orientierung. Wir alle verstehen diese Begriffe irgendwie, und da sich unser Verständnis dieser Begriffe auf uns selbst und auf andere auswirkt, ist diese Position, dass das jeder für sich selbst entscheiden muss, und somit kein weiteres Nachdenken darüber erforderlich sei, schlicht nicht haltbar. Zudem ist eine solche Position selbstwidersprüchlich, denn wer behauptet, dass es keine verbindlich überprüfbare Wahrheit gebe und deswegen jeder nach seinem subjektiven Gutdünken handeln sollte, äußert damit gleichzeitig einen gewissen Wahrheitsanspruch. Ohne diesen Anspruch auf Wahrheitsgehalt würde jegliche Kommunikation ihren Sinn verlieren. Doch müssen wir eben prüfen, inwiefern Wahrheitsansprüche gerechtfertigt sind. Und das ist Sache der Philosophie, weil es dabei um das begriffliche, gedankliche und argumentative Fundament geht.

Wir haben es täglich in unserem Alltag mit einer Vielzahl solcher Konstrukte, die unser Denken und Handeln maßgeblich beeinflussen, zu tun, deswegen besteht die Notwendigkeit, sie kritisch zu prüfen.

Die meisten von uns haben zum Beispiel den Anspruch, sich frei entfalten zu können. Doch was genau verstehen wir darunter und was sind die Auswirkungen davon, etwa im Hinblick auf ungezügelte Wirtschaftsprozesse? Wir erwarten Leistung von anderen und von uns selbst; doch was bedeutet Leistung in Bezug auf menschliche Tätigkeiten und nach welchen Maßstäben wäre sie zu bewerten?

Auch die für uns völlig selbstverständlichen Begriffe wie „Mensch“ und „Tier“ gehören dazu. Was meinen wir, wenn wir diese Begriffe verwenden, was genau sind die Folgen einer solchen begrifflichen Unterscheidung für alle Beteiligten?

Wir können nicht einfach so tun, als gäbe es diese gedanklichen Konzepte nicht. Auch wenn wir noch nie so recht darüber nachgedacht haben – wir folgen bereits vorgeprägten Vorstellungen von diesen Begriffen, und genau dies wirkt sich irgendwie auf uns selbst und auf andere aus. Deswegen ist es so wichtig, sie zu prüfen.

Aufgrund seiner Verborgenheit im Alltäglichen ist der Gegenstand der Philosophie leicht mit einem Satz auf den Punkt gebracht. Philosophie ist das Infragestellen des Selbstverständlichen. Und das Selbstverständliche kann furchtbar gefährlich sein.

Bildung im aufgeklärten Sinne besteht also aus diesen vier soeben genannten Aspekten:

Methodisch-kritische Wissensaneignung, Kritik an Autoritäten, Selbstkritik sowie Prüfung von Begriffen und geistigen Konstrukten. Diese vier Aspekte lassen sich wiederum komprimieren in zwei grundsätzliche Domänen. Einmal die Domäne des technischen Wissens im weitesten Sinne. Mit dem griechischen Begriff technéwird das klassische technische Wissen bezeichnet, das Wissen, das man braucht, um etwas zustande zu bringen. Die Vermittlung dessen würden wir heute als Ausbildung bezeichnen, auf höherem Niveau als Wissenschaft. Es zielt vor allem auf Ergebnisse ab. Karl Jaspers spricht bereits in den 1960er Jahren von „Wissenschaften, die technisch notwendig sind“ und grenzt sie ab von „Bildung, die das Leben führen und erfüllen kann.“ (14)

Diese zweite Domäne ist maßgeblich durch kritisches Fragen geprägt; Fragen nach dem, was wir zu wissen glauben; die wichtigste Tugend dabei ist eine fundamentale Selbstkritik; fundamental, weil sie die Voraussetzungen dessen, was wir zu wissen glauben, und unsere gedanklichen Grundkonstrukte kritisch reflektiert. Wie wesentlich gerade dieser Aspekt aufgeklärter Bildung ist, wird auf all zu unbequeme Weise deutlich, wenn wir uns an Adornos Radiobeitrag „Erziehung nach Auschwitz“ erinnern. Darin konstatiert er:

Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.“ (15)

Es wäre naiv, im 21. Jahrhundert dabei ausschließlich die Gefahr eines neuen Rechtsradikalismus vor Augen zu haben. Bereits 1989 heben die Bildungswissenschaftler Hanns-Fred Rathenow und Norbert Weber in dem Aufsatzband „Erziehung nach Auschwitz“ folgendes hervor:

[…] sicherlich ist der Holocaust das logische Produkt jeder sich selbst als total setzenden Rationalität, ebenso sicher ist er aber auch nicht an die konkrete Form des KZs, ja noch nicht einmal an die Ideologie „Reinheit durch Ausmerzung“ in ihrer faschistischen Unverblümtheit gebunden, sondern kann heute an völlig anderen Orten und in völlig anderen politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen und ideologischen Zusammenhängen geschehen.“ (16)

In den 1980er Jahren nannten die Autoren als Beispiele für solche anderen Zusammenhänge etwa die Gefahr eines weltweiten Nuklearkriegs, aber auch die lebensbedrohende Abhängigkeit der „Dritten Welt“ von den Industrienationen und die damit verbundene Verelendung von Milliarden Menschen sowie die gewaltsame Zerstörung der Natur durch Eingriffe in Ökosysteme. (17) Jeder mag selbst überlegen, wie diese Liste heute noch zu aktualisieren wäre. Ich würde in jedem Fall den grausamen Umgang mit Tieren zur Befriedigung trivialer menschlicher Bedürfnisse hinzufügen. Dieses Thema erweist sich heute als einer der großen Prüfsteine dessen, ob man es mit aufgeklärten Charakteren zu tun hat. Die gesellschaftlichen Sanktionen selbst in schulischen Kontexten, wo man aufgeklärte Charaktere noch am ehesten erwarten würde, sprechen eine eindeutige Sprache. Doch dieses Thema will ich eher an anderer Stelle noch einmal aufgreifen.

Diese Domäne der fundamentalen Selbstkritik, welche unsere gedanklichen Grundkonstrukte kritisch reflektiert, nennen wir Philosophie. Beide Domänen zusammengefasst, also Technik und Philosophie, würde ich als aufgeklärte Bildung bezeichnen. Die fundamentalkritischen Methoden der Philosophie sind in unserem Bildungssystem leider vollkommen unterrepräsentiert.

Dem entspricht die öffentliche Verwendung der Begriffe „Bildung“ und „Aufklärung“, die hauptsächlich im Sinne der technisch-wissenschaftlichen Domäne verstanden werden. Es geht vornehmlich um die Vermittlung konkreter Kompetenzen zur Aufrechterhaltung bestehender Strukturen von Herrschaft, Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung auf allen Ebenen; mag es auch größtenteils unbewusst geschehen. Falls diese These nun befremdlich erscheint, sollten wir gemeinsam prüfen, ob dies nicht gerade ein Zeichen fehlgeleiteter Aufklärung ist.

Die Kompetenz nämlich, die Grundstrukturen, in denen unser Leben sich vollzieht, kritisch zu reflektieren, spielt – gelinde gesagt – eine völlig untergeordnete Rolle. Als aufgeklärt gilt, wer sich praktisches Wissen für den Beruf angeeignet hat, wer die gesellschaftlichen Institutionen versteht, sich in ihnen bewegen kann, wer sich Informationen beschaffen, diese vor dem Hintergrund seiner Interessen „kritisch“ bewerten und somit sich etwa an aktiv an einer Wahl beteiligen kann. Wir befinden uns hier vollkommen auf der Seite der techné, also des Wissens, das wir für unsere tägliche Lebensbewältigung benötigen. Die gerade besprochenen Grundstrukturen sind dadurch jedenfalls noch nicht berührt. Im Hinblick darauf befinden sich die allermeisten auf der Ebene der Meinung bzw. des Glaubens. Sie vertreten also die Meinung, dass es gut ist, unseren Wohlstand weiter auszubauen, sie vertreten die Meinung, dass es normal und notwendig sei, frei zu unserem trivialen Nutzen über Tiere zu verfügen. Meinung bzw. Glaube ist dadurch charakterisiert, dass sie nicht gründlich und kritisch durchdacht wurden. Der griechische Begriff dafür lautet doxa. Und genau davon will sich die Philosophie von alters her abgrenzen und stattdessen universell gültiges Wissen im eigentlichen Sinne erlangen. Aufgeklärt ist aber nicht, wer solches Wissen innehat, sondern wer aufrichtig danach strebt und sich der möglichen Täuschungen bewusst ist.

Vertrackt wird es, wenn nicht nur in den Medien, sondern sogar im schulischen Zusammenhang die nunmehr ausgehöhlten Begriffe „Aufklärung“, „Bildung“ und „Mündigkeit“ verwendet werden. Hier ist gleichsam ein genius malignus, ein täuschender Dämon am Werk; durch die bloße äußere Form der Begrifflichkeit wird der Irrglaube verbreitet, dass unser Schulsystem vollumfänglich mündige, also auch im philosophischen Sinne aufgeklärte Bürger hervorbringen würde. Ein Blick in die Kerncurricula Gymnasiale Oberstufe – abgekürzt KCGO – des Landes Hessen belegt diesen formalen Anspruch auf Aufklärung. Der Begriff „Aufklärung“ und das Stammwort „mündig“ erscheinen quasi in jedem fachspezifischen Curriculum, wodurch ein aufgeklärter Bildungsbegriff suggeriert wird. Die Praxis zeigt jedoch, dass es selbst innerhalb der formal gebildeten Bevölkerung an fundamentalen Grundkompetenzen des philosophischen Denkens und Argumentierens fehlt, insbesondere aber mangelt es an der Haltung des Fragens, welche zumindest in Hessen als wesentlich zu vermittelnde Kompetenz am Gymnasium beansprucht wird. Inhaltlich scheint es also einige Defizite zu geben.

Die philosophische Domäne des Bildungsbegriffs, in der die für jegliche Diskursfähigkeit notwendigen Kompetenzen des fachübergreifenden Denkens vermittelt werden, wie kritische Wahrnehmung, Argumentationsanalyse, kritische Selbstreflexion, und kritisches Urteilen, sind in besonderem Maße Inhalt des Faches Ethik. Die Bedeutsamkeit dieser Kompetenzen wird im Kerncurriculum Ethik unter Punkt 2.1 „Beitrag des Faches zur Bildung“ gleich im ersten Satz entsprechend hervorgehoben: „Dem Fach Ethik kommt in der Gymnasialen Oberstufe eine besondere Bedeutung zu …“. (18)

Einen vergleichbaren Satz finden wir nur noch unter demselben Punkt im Kerncurriculum zum Fach Politik und Wirtschaft. Dort heißt es:

Das Fach Politik und Wirtschaft nimmt im Fächerkanon der Schule und damit auch in der gymnasialen Oberstufe eine besondere Stellung ein.“ (19)

Mir liegt es fern, die Fachbereiche gegeneinander auszuspielen. Ich betone ausdrücklich, dass ich alle Fächer für sinnvoll und wichtig erachte, unter der Voraussetzung allerdings, dass die allgemeine, überfachliche philosophische Aufklärung dabei präsent ist. Denn ihr ausdrückliches Geschäft besteht darin, jenseits fachgebundener Einschränkungen Grundbegriffe und Grundannahmen, Argumentationsmuster, die Tendenz eigener Interessen etc. kritisch zu reflektieren.

Um so verwunderlicher ist die Widersprüchlichkeit, dass das Fach Ethik, dem „in der gymnasialen Oberstufe eine besondere Bedeutung“ (20) zukomme, im Gegensatz zu Politik und Wirtschaft, das ja „im Fächerkanon der Schule …“ auch eine besondere Stellung einnehme, nicht für alle verpflichtend ist. In Hessen hat das Fach Ethik gar den Status eines „Ersatzfachs“, in Abgrenzung zu einem „ordentlichen Lehrfach“ (21) wie übrigens Religion und alle anderen Unterrichtsfächer, sofern sie nicht ausdrücklich als Wahlpflichtfächer deklariert sind!

Besonders in der Unter- und Mittelstufe besteht keine persönliche Wahlfreiheit zwischen Religions- und Ethikunterricht. Die Eltern entscheiden für das Kind und müssen es ausdrücklich vom Religionsunterricht abmelden, was für einige doch eine gewisse Hemmschwelle darstellt. Als Ersatz ist dann am Ethikunterricht teilzunehmen.

 

In der Konsequenz bedeutet dies, dass die „besondere Bedeutung“ des Faches Ethik und die damit einhergehende „Orientierung, die Mündigkeit und Kritikfähigkeit ermöglicht“ (22), nur etwa einem Viertel bis einem Drittel aller Schülerinnen und Schüler vermittelt wird. Alle anderen befinden sich durch die Teilnahme am Religionsunterricht ausdrücklich in einer religiös eingeschränkten Perspektive, wie ein Blick in die Kompetenzbereiche offenbart.

Die für das Fach Ethik beanspruchte Bildung zur Mündigkeit, fehlt zumindest sprachlich an den entsprechenden Stellen des Kerncurriculums beider Religionen sogar völlig.

Des Weiteren kommt dem Ersatzfach Ethik im Gegensatz zu Religion grundsätzlich kein Leistungskurs-Status zu. Schulen fehlt also rein formal die Möglichkeit, Ethik auf Leistungskurs-Niveau anzubieten. Dasselbe gilt übrigens für das Fach Philosophie, das ohnehin noch viel weniger Schülerinnen und Schüler belegen, da es an vielen Hessischen Gymnasien erst eingeführt werden müsste; sofern dies überhaupt in Konkurrenz zu den „fürs Leben relevanten Fächern“  durchgesetzt werden kann, ist es nur für ein Jahr verpflichtend.

Selbst die Ethik-Fachlehrkräfte werden innerhalb schulinterner Gremien nicht als Teil einer Fachschaft mit relevantem Kompetenzbereich wahrgenommen. Jedenfalls nicht dann, wenn sie vom Mainstream abweichende Beiträge leisten und somit die eigentliche Basis ihrer beruflichen Qualifikation zur Geltung bringen. Denn dem Mainstream fehlt es weitestgehend bereits an einer Fragehaltung, die eigentlich von jeder Lehrkraft vermittelt werden sollte.

Aus dem beschriebenen Sachverhalt ergibt sich die leidige Konstellation, dass, wenn überhaupt, lediglich ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler an Hessischen Gymnasien über für jegliche Diskurse notwendige Grundkompetenzen verfügt, die sie bei anderen schlicht nicht voraussetzen können.

Als Folge erleben wir eine geradezu groteske Diskrepanz zwischen einseitig technisch gebildeten Menschen (und dazu gehören auch die Wirtschaftswissenschaften), wie sie in der Regel unserem Bildungssystem entspringen, und eben solchen, die sich um einen ganzheitlich-aufgeklärten Bildungsbegriff mit philosophischer Basis bewegen. Was im Kopf von Richard David Precht während eines Redebeitrags des Unternehmers und ehemaligen BDI-Präsidenten Ulrich Grill vorgehen mag, erscheint mir geradezu repräsentativ für Debatten, in denen es an einer gemeinsamen Basis der fragenden Haltung und an entsprechendem diskursrelevantem Handwerkszeug fehlt. (23)

Die beiden leben im wahrsten Sinne des Wortes in völlig unterschiedlichen Begriffswelten. Das Format solcher Diskussionen lässt überdies keine systematische Grundlagenarbeit wie Begriffsklärung, gemeinsame Textexegese etc. zu. An dieser Stelle kann aber keine vertiefende Medienkritik stattfinden.

Interessant ist allerdings, dass bereits Schüler der Oberstufe von ähnlichen Situationen berichten. Ihnen fällt auf, dass fachübergreifende Bezüge im Unterricht grundsätzlich gern gesehen und entsprechend gewürdigt werden. Gleichzeitig berichten sie, dass es völlig sinnlos sei, Hintergrundwissen aus dem Ethikunterricht einzubringen, weil schlicht die gemeinsame Basis fehlt. Weder der Rest des Kurses noch die Lehrkräfte können die Beiträge adäquat beurteilen oder gar wertschätzen. Auch die Angst vor abwertenden Reaktionen spielt dabei eine Rolle, wenn man sich all zu sehr von der vielleicht eher unbewusst vorhandenen Bandbreite zulässiger Positionen entfernt sieht.

Aus dieser systemimmanenten Widersprüchlichkeit entsteht eine gewisse Frustration. Auf der einen Seite sind Schule und öffentliche Sprache durchdrungen von Phrasen rund um Aufklärung und Mündigkeit. Schule ist die gesellschaftliche Institution mit einem ausgewiesene sogenannten Bildungsauftrag. Im Kerncurriculum Ethik ist gar „eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber Werten und Autoritäten“ (24) als Bildungsziel formuliert.

Gleichzeitig herrscht bereits im Schulsystem die Autorität des Mainstreams, dem es rein formal an genau den Grundkompetenzen fehlt, die im Ethikunterricht vermittelt werden sollen. Ich verwende den Begriff „formal“, weil ich die Beteiligten entlasten möchte.

Weder das Gros der Schülerschaft noch das der Lehrerschaft hat sich jemals dezidiert mit den im Kerncurriculum Ethik formulierten Bildungszielen auseinandergesetzt. Dieses Missverhältnis lässt sich leicht als formales Mengenverhältnis auf den Punkt bringen:

Alle Schüler, die im Ethikunterricht sind, kennen im wesentlichen die anderen relevanten „ordentlichen Unterrichtsfächer“, also Physik, Geschichte, Politik und Wirtschaft, Biologie usw. Sie können also ohne Probleme auf der Grundlage eines formal vorauszusetzenden Grundverständnisses an entsprechenden Diskursen teilnehmen.

Umgekehrt jedoch fehlen dem Großteil der Schülerinnen und Schüler entsprechende Kompetenzen, die in angemessener Form eben ausschließlich im Ethikunterricht vermittelt werden. Insofern kann man schon rein strukturell bedingt gewisse relevante Kompetenzen in Bezug auf ethische Diskurse nicht voraussetzen.

Da dieser – man könnte sagen vorphilosophische – Mainstream die Inhalte des Ethik- und Philosophieunterrichts nicht kennt, weiß er auch nicht um die eigenen Defizite. Gleichwohl hält er nicht mit vernichtenden Urteilen zurück und wirft den – nennen wir sie salopp „Philosophen“ -Überheblichkeit und Arroganz vor.

Dieses Missverhältnis kennen wir bereits seit der vorsokratischen Antike. Nach einer Anekdote um den Philosophen Aristipp (435 – 355 v. Chr.) soll dieser auf die Frage, wie es denn komme, dass man die Philosophen in den Häusern der Reichen finde, nicht aber die Reichen in den Häusern der Philosophen, geantwortet haben: Weil die einen wissen, was sie brauchen und die anderen nicht.

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, die Relevanz der Philosophie und insbesondere der philosophischen Ethik für unser global-gesellschaftliches Zusammenleben zu verdeutlichen. Mein Anliegen ist zunächst einmal die Aufklärung über den strukturellen Missstand, den ich zumindest in Bezug auf das Hessische Schulsystem aufgezeigt habe. Ich gehe davon aus, dass die Zuschauer, die bis jetzt durchgehalten haben, grundsätzlich wissensdurstige Menschen sind und diesen Widerspruch nachvollziehen können. Auf der einen Seite den im Curriculum selbst formulierten hohen Anspruch des Fachs Ethik und auf der anderen Seite die formale Herabstufung zu einem Ersatzfach mit allen aufgezeigten Konsequenzen.

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch bestimmt in seinem Aufsatz „Rechtsphilosophie“ das Recht als „Wille zur Gerechtigkeit“. Bestehendes Recht wird immer von manchen als unvollkommen und ungerecht empfunden. Dennoch müssen wir uns an Gesetze halten, selbst dann, wenn wir sie nicht befürworten. Laut Radbruch müsse aber im bestehenden Recht grundsätzlich der Wille zur Gerechtigkeit erkennbar sein, damit es Geltung besitze. (25)

Analog dazu möchte ich den Vorschlag machen, dass wir Bildung als Wille zur Aufklärung verstehen, und zwar im vollumfänglichen Sinne der philosophischen Aufklärung. Davon ausgehend bestünde die Minimalforderung in der Erhebung zumindest des Schulfachs Ethik zu einem „ordentlichen“ und für alle verpflichtenden Lehrfach. Zumindest die Menschen in Hessen sollten dies einfordern. Damit wäre faktisch wahrscheinlich noch wenig gewonnen, da die Überlagerungen durch das Bestehende zu stark sind. Jedoch wäre es ein Anfang, die Begriffe „Bildung“, „Aufklärung“ und „Mündigkeit“ hätten in den Curricula wenigstens ansatzweise ihre Berechtigung.

Vielleicht konnte ich bei manchen den philosophischen Eros entfachen, das Feuer, das ernsthaft nach Wissen strebt, und zwar unabhängig von je persönlichen Interessen. Die Ausbildung eines Philosophen vollzieht sich ein ganzes Leben lang, auch ich selbst bin natürlich weit davon entfernt, ein „großer Philosoph“ zu sein. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es sehr viele sehr viel besser ausgebildete Fachphilosophen gibt. Das sollte aber weder mich noch andere davon abhalten, seinen oder ihren jeweiligen Beitrag zu leisten. Ein sehr einfacher gemeinsamer Nenner, den ich auch von echten Greenhorns erwarten kann, ist die erwähnte Fragehaltung. Dazu bedarf es keinerlei Fachwissen. Wer ernsthaft an Wissenszuwachs interessiert ist, scheut sich vor keiner Frage, er nimmt jeden Beitrag ernst und prüft ihn kritisch. Er konzentriert sich auf das Argument und ist sich seiner eigenen Interessen kritisch bewusst.

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Das nächste Thema steht bereits fest. Es knüpft inhaltlich direkt an diesen Beitrag an.

Tschüss, bis zum nächsten Video.


(1) https://youtu.be/Rk6I9gXwack (58:30)
(2) René Descartes: Discours de la Méthode. Bericht über die Methode. Reclam 2001, S. 13 (AT 4).
(3) Ebd.
(4) Ebd., S. 39 (AT 18).
(5) Ebd., S. 39 (AT 18).
(6) René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Felix Meiner, Hamburg 1993, S. 18.
(7) Ebd., S. 21.
(8) Ebd.
(9) Ebd.
(10) Ebd., S. 34.
(11) Platon: Eutyphron, 3 d.
(12) Ebd., 4 e.
(13) Ebd., 5 a.
(14) Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? R. Piper & Co, Verlag, München 1966, S. 201.
(15) Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Suhrkamp Verlag, 262017, S. 90.
(16) H.-F. Rathenow/N. H. Weber (Hg.): Erziehung nach Auschwitz. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1989, S. 14.
(17) Vgl. Ebd., S. 18.
(18) https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/kcgo-et_0.pdf, S. 10, (Google-Suche: „KCGO Ethik“).
(19) https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/kcgo-pw.pdf, S. 10. (Google-Suche: „KCGO PoWi“)
(20) KCGO Ethik, S. 10.
(21) http://religionsunterricht-hessen.de/2016/05/30/ethik-2/, aufgerufen am 03.09.2018.
(22) KCGO Ethik, S. 10.
(23) https://youtu.be/y3T0UYlKGaM (3:42 – 4:21)
(24) KCGO Ethik, S. 10.
(25) Vgl. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Stuttgart (K. F. Koehler) 8, 1973. In: Norbert Hoerster (Hg.): Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie. München (dtv) 1977. S. 42-44.